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Der Pharma-Visionär
Mit künstlicher Intelligenz gegen Krankheiten: Wie Gunjan Bhardwaj die Regeln der Arzneimittelforschung umschreiben will – für schnellere Ergebnisse und bessere Medikamente.
Der Rollkoffer steht schon bereit. Ein kleiner, schwarzer Trolley, für einen Kurztrip – nach Indien, der Heimat von Gunjan Bhardwaj. Bevor es losgeht, erzählt der „indische Schwabe“ (so nennt er sich) aber noch, wie er um die Welt gezogen ist und schließlich ausgerechnet in Eschborn bei Frankfurt eine Firma gegründet hat, die nun dank cleverem Marketing von manchen Medien das „Google der Pharmabranche“ genannt wird: Bhardwaj will mit Computerpower, künstlicher Intelligenz und riesigen Datensätzen die Regeln der Arzneimittelforschung umschreiben. Große Träume, viel Hingabe und auch Zufälle haben ihn hierhin gebracht. Dies ist die Story eines Unermüdlichen, eines Getriebenen, der seine Chance gesucht und gefunden hat.
Alles beginnt in einem Ort nahe des Atomkraftwerks Rajasthan im Nordwesten Indiens. Bhardwajs Vater arbeitete dort in der Qualitätssicherung, er selbst besuchte die „Atomic Energy Central School“, einen Verbund von Schulen für die Kinder der Beschäftigten in den Atomkraftwerken. Was zählt, sind gute Noten in Mathe, Chemie und Physik. „Alle Eltern haben immer über die Noten ihrer Kinder in den naturwissenschaftlichen Fächern geredet“, erzählt der heute 37-Jährige. „Das war also eine besondere Kindheit.“ Seine Eltern bläuen ihm ein, dass Bildung der Weg zum Erfolg ist.
Als Student macht Bhardwaj Geschäfte mit Sitzsäcken
Und tatsächlich gelingt ihm nach der Schule der Coup: die Aufnahme am Standort Mumbai der Indian Institutes of Technology (IIT). „Das glich einem Wunder“, so Bhardwaj. Die Einrichtung gehört zu den renommiertesten Bildungsstätten der Welt. Hunderttausende junge Inderinnen und Inder versuchen jährlich aufgenommen zu werden, nur zwei Prozent schaffen es.
Der Co-Gründer der Chipfirma Sun Microsystems, Vinod Khosla, sagte einmal: „Kombinieren Sie Harvard, MIT und Princeton und Sie bekommen eine vage Vorstellung von der Bedeutung des IIT in Indien“. Die IIT-Alumni bevölkern die Chefsessel kalifornischer IT-Riesen, so zum Beispiel Sundar Pichai als Chef des Google-Mutterkonzerns Alphabet. „Erst da entstand bei mir ein Bewusstsein dafür, dass jeder, unabhängig von seinem Hintergrund, eine große Karriere haben könnte“, sagt Bhardwaj.
Die Träume sind schon an der Uni groß. Seine erste Geschäftsidee: pneumatische Ventile für Atomkraftwerke. Weil das einfach cool war, sagt Gunjan Bhardwaj. Und weil sein Vater in dem Bereich arbeitete. Doch manchmal ist cool eben zu cool. Eine Startfinanzierung gibt es dafür nicht. Stattdessen soll er seinen Förderern seine Geschäftstüchtigkeit beweisen, indem er in die Produktion von Sitzsäcken einsteigt. „Also sind wir in Mumbai rumgefahren und haben Preise für Stoffe, Füllmaterial und Schneider in Erfahrung gebracht. Wir konnten die Säcke dann für 400 Rupien herstellen lassen und für 7000 Rupien verkaufen. Das wurde also unser erstes Geschäft.“ Es folgten weitere, der Studienabschluss und schließlich der Weg in die Vereinigten Staaten, den viele IIT-Absolventen gehen. Da ist Bhardwaj 21 und alles scheint so, als wäre der Weg zur großen Karriere bereitet.
„Ich war voller Energie, ungeduldig und wollte etwas bewegen”, sagt Bhardwaj.
Doch der Traum vom Stipendium für ein Betriebswirtschaftsstudium platzt, denn dafür hätte er, so Bhardwaj, auch den Doktor machen müssen. Fünf weitere Jahre an der Uni? Nicht vorstellbar. Stattdessen landet er in der badischen Stadt Pforzheim, mit einem Stipendium für einen MBA an der dortigen Hochschule für Gestaltung, Technik, Recht und Wirtschaft.
Doch was ist schon ein MBA-Studium? Jedenfalls nicht genug. „Ich habe gejammert, dass ich mehr machen will. Ich war voller Energie, ungeduldig und wollte etwas bewegen“, erzählt Bhardwaj. Ein Partner der Unternehmensberatung EY wird auf ihn aufmerksam, folgender Dialog soll sich entsponnen haben:
„Was willst Du machen?“
„Etwas Cooles.“
„Verstehst Du etwas von Buchhaltung, vom Steuerwesen?“
„Null.“
„Sprichst Du Deutsch?“
„Nein.“
„Dann habe ich etwas Cooles für dich.“
Und dann beginnt sein Praktikum in deutschem Steuerrecht in Stuttgart Weilimdorf. Was man halt so cool nennt unter echten Nerds. Die Regeln sind einfach: „Wenn ich etwas nicht verstanden habe, durfte ich auf Englisch fragen, aber sie haben immer auf Deutsch geantwortet. Keiner hat mit mir Englisch gesprochen. Jeden Nachmittag nach der Uni bin ich da hingereist, und wenn gegen zehn, elf Uhr nachts alles fertig war, bin ich wieder nach Pforzheim gefahren.“
Als sein Chef krank wird, richtet er eine Kommandozentrale im Krankenhaus ein
Es folgt eine Blitzkarriere. Der Vorstandschef von EY wird sein Mentor, er ist am Aufbau eines Kompetenzzentrums für Indien beteiligt und gründet und leitet den Global Business Performance Think-Tank. Eines Tages eröffnet ihm sein Chef, dass er Krebs hat. Eine Diagnose, die auch für Gunjan Bhardwaj alles verändert.
„Da habe ich gesagt: Wir richten ein Kommando-Center bei dir im Krankenhaus ein. Von dort aus habe ich dann fast jeden zweiten Tag gearbeitet. Ich erlebte die ganze Hilf- und manchmal auch Hoffnungslosigkeit einer Familie in einer solchen Situation. Ich fragte mich auch, ob das, was der Chefarzt sagt, so stimmt. Mein Chef sagte: Das ist der Chefarzt, der hat Erfahrung. Und ich sagte: Er ist ein Mensch, er kann auch nicht alles wissen.“
Innoplexus vermarktet er als Google der Gesundheit
Bhardwaj macht sich auf die Suche nach Informationen: alternative Therapien, Koryphäen, wissenschaftliche Literatur. Und verzweifelt. Seine Recherchen sind aufwendig, komplex und im Ergebnis unbefriedigend. Vor allem eines findet er: Viele Gründe, es besser zu machen. Und was läge für einen wie ihn näher, als dem Problem mit der Kraft der Technik zu Leibe zu rücken?
Neun Jahre später hat Bhardwaj ein Unternehmen namens Innoplexus, Hauptsitz in Eschborn bei Frankfurt, Standorte in Indien und den USA. Es ist ihm, es wurde bereits erwähnt, gelungen, das 2015 gegründete Start-up als das „Google für die Gesundheit“ oder das „Google für die Pharmabranche“ zu etablieren. Also allererste Sahne. Wobei es bei diesen Slogans in erster Linie darum geht, dass man mit Innoplexus’ Technik nach Gesundheitsinformationen suchen kann wie nie zuvor.
Das medizinische Wissen wächst so schnell, dass niemand mehr hinterherkommt
Und das kommt gerade rechtzeitig. Der US-Medizinprofessor Peter Densen von der Universität Iowa schrieb 2011 in einem Aufsatz, dass geschätzt werde, dass sich das medizinische Wissen 2020 alle 73 Tage verdoppeln werde. Ein Prozess, der früher Jahrzehnte dauerte. Auf welche Untersuchung Densen sich in seinem Aufsatz bezog, und ob wirklich Wissen gemeint war oder doch eher Daten, bleibt ungeklärt. Doch seine Schlussfolgerung trifft mit Sicherheit zu: „Das Wissen expandiert schneller als unsere Fähigkeit, uns daran anzupassen und das Wissen effektiv anzuwenden.“ In der Bildung. In der Behandlung von Patienten. In der Forschung.
Das Problem: Das Wissen ist verstreut. Es findet sich an Universitäten, in akademischen Fachzeitschriften, Studien, Vorträgen, Patenten, Arbeitspapieren oder medizinischen Foren. Manches ist veröffentlicht, anderes nur einem kleinen Kreis von Menschen zugänglich. Und kein Forscher, keine Forscherin hat noch eine Chance, sich einen vollständigen Überblick über den Stand des Wissens zu verschaffen. Heerscharen von Menschen sind nötig, um all die Informationen zusammenzutragen und tatsächlich nutzbar zu machen. Selbst milliardenschwere Pharmakonzerne stellt das vor Probleme, ganz zu schweigen von Wissenschaftlern an medioker ausgestatteten Universitäten.
Innoplexus kann mehr als zehn Milliarden Webseiten pro Tag durchsuchen
Wie also lassen sich all die Informationen zugänglich machen und strukturieren? Diese Frage stellt sich Bhardwaj, als er 2011 zu tüfteln beginnt. Als Erstes bringen er und eine Gruppe von Nerds den Computern bei, die Sprache der Lebenswissenschaften zu verstehen. „Das funktioniert wie beim Menschen“, so Bhardwaj. „Das kindliche Gehirn kennt 2800 Begriffskonzepte, und wenn man dieses Gehirn mit vielen Geschichten und Erfahrungen trainiert, dann wird man als Shakespeare über ungefähr 600 000 Begriffskonzepte verfügen. Unsere Software versteht nun mehr als 25 Millionen Begriffskonzepte der Lebenswissenschaften. Es handelt sich in diesem Bereich um den größten Wortschatz auf dieser Erde.“
Mit diesem Wortschatz kann die Suchmaschine von Innoplexus täglich mehr als zehn Milliarden Webseiten abgrasen, alles, was auch nur im Entferntesten etwas mit Lebenswissenschaften zu tun hat. Sie analysiert Text, sammelt Datensätze und findet sogar Informationen in Fotos. Anschließend werden diese Informationen in ihre Bestandteile zerlegt, abgespeichert und miteinander in Beziehung gebracht. Wie interagiert ein Protein mit einem anderen Protein? Welches Molekül dockt wie an welchen Rezeptor an – mit welcher Wirkung? Welches Virus hat welche Schwächen? Welche Patienten sprechen auf welche Arzneimittel an? Welche Wirkstoffkombinationen erhöhen den Therapieerfolg bei welcher Krankheit? Welcher Wissenschaftler ist auf seinem Fachgebiet besonders anerkannt? Welche Kliniken führen klinische Studien mit welchem Erfolg durch? Das alles weiß die Software laut Innoplexus. Man könnte sie den Big Brother der Pharmaforschung nennen.
Die Fachwelt horcht auf, als Innoplexus das Ergebnis von Arzneimittelstudien richtig vorhersagt
Notwendig für all das waren viele neue technische Lösungen. Mehr als 120 Patente hat das Unternehmen nach eigenen Angaben angemeldet, unter anderem im Bereich der Blockchain, einem weiteren Hypebegriff der Computerwissenschaften. Es handelt sich um eine Methode, Informationen und ihre Herkunft fälschungssicher zu dokumentieren. Das soll helfen, Forscherinnen und Forschern die Angst zu nehmen, dass ihre Ergebnisse von anderen geklaut werden könnten. So soll ein offenerer Umgang mit Informationen gefördert werden, der sogar finanziell belohnt werden kann.
Der Ansatz von Innoplexus führt zu Ergebnissen, die die Fachwelt aufhorchen lassen. Zum Beispiel berechnet das Unternehmen die Erfolgschancen neuer Medikamente in klinischen Tests. Während Investoren und Fachleute 2018 etwa einen Erfolg für das Medikament Aducanumab des Pharmakonzerns Biogen erwarten, sagt die künstliche Intelligenz von Innoplexus ein sehr wahrscheinliches Scheitern voraus. So kommt es dann auch. Biogen verliert an der Börse binnen Stunden fast die Hälfte seines Firmenwertes. Solch teure Fehlschläge sollen künftig der Vergangenheit angehören.
“Wir wollen Hypothesen für neue Medikamente liefern”, sagt Bhardwaj
Und mehr noch: Gunjan Bhardwaj will dazu beitragen, dass von Anfang an dort geforscht wird, wo die Erfolgsaussichten gut sind. Wenn die künstliche Intelligenz in einem Therapiegebiet entscheidende Fortschritte beobachtet, soll sie Vorschläge für neue Arzneimittel ausspucken. „Wir wollen Hypothesen für neue Medikamente liefern“, sagt Bhardwaj. Die können dann im Labor getestet werden. Im März hat das Unternehmen zum Beispiel mehrere Ansätze zur Behandlung von Covid-19 vorgeschlagen.
„Wir starten in eine neue Ära der Pharmaforschung“, da ist der Gründer sicher. „Die neue Pharma wird auf künstliche Intelligenz setzen. Wir sind fest davon überzeugt, dass das nächste Pharmaunternehmen nicht in einem Gebäude errichtet wird, sondern auf so einer Plattform stehen wird. Denn sie können mit diesem Elfenbeinturmansatz nicht weiterkommen.“
Daten gelten in der Pharmaindustrie als das neue Wundermittel
Zu dieser Auffassung ist inzwischen die ganze Pharmabranche gelangt. Experten der Unternehmensberatung EY gehen davon aus, dass Datenplattformen künftig über Erfolg und Misserfolg von Arzneimittelunternehmen entscheiden werden. Sämtliche Konzerne sind bemüht, ihre Datenpools und -auswertung auszubauen. Vas Narasimhan, der Chef des Schweizer Pharmariesen Novartis, spricht von einer „digitalen Revolution“ und baut den Konzern zu einem „Medizin- und Datenwissenschafts-Unternehmen“ um. Konkurrent Roche will die bisherigen Säulen Arzneimittel und Diagnostik um die Säule Datenmanagement ergänzen. Zugleich werden in den Firmen die Wissenssilos aufgebrochen. Es soll vermieden werden, dass Forscher in verschiedenen Abteilungen wie Onkologie und Neurologie am selben Protein forschen, aber nichts von der Arbeit der jeweils anderen wissen.
Vom Run auf die Daten wollen viele Dienstleister profitieren. Mediadata, Elsiever und Flatiron sind nur einige Beispiele. Doch Innoplexus hat sich in eine solide Position gebracht. Die Firma zählt inzwischen laut eigenen Angaben mehr als zehn der 25 größten Pharmakonzerne der Welt zu ihren Kunden.
Vergessen, woher er kommt und warum er das alles macht, hat Bhardwaj derweil nicht. Im Juni hat das Unternehmen die App Curia gestartet, mit der sich Krebspatienten und ihre Angehörigen auf dem Handy über Therapiemöglichkeiten informieren können. Damit hat der Gründer sein ursprüngliches Ziel erreich. Sein alter Chef wird die App allerdings nicht benötigen: Er ist wieder gesund.
Originally published on Frankfurter Rundschau.
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